DePerspektiven – eine neue Art und Weise unterschiedliche Blickwinkel zusammenzubringen, um inspirierende Denkanstöße anzuregen.
Ein studentisches Projekt betreut von Andrea Krajewski
Sommersemester 2022
Prolog
Digitale Souveränität bedeutet, dass ein Individuum seinen digitalen Lebens- und Aktionsraum jederzeit selbst bestimmen kann. Der Wunsch nach digitaler Selbstbestimmung ist in den letzten Jahren angesichts einer zunehmenden digitalen Fremdbestimmung etwa durch Konzerne und Organisationen, bei gleichzeitiger Duldung dieses Mißstandes durch Nutzende und politische Akteur:innen aufgetaucht und als Anforderung formuliert worden.
Dabei ist der Gedanke an sich gar nicht so neu. Die Würde des Menschen sei unantastbar und seine Menschenrechte unveräußerlich, so heißt es im Grundgesetz. Als dieser Anspruch formuliert wurde, lebten die Menschen oder zumindest die, die das Grundgesetz formulierten, allerdings hauptsächlich in einer physischen (nicht-digitalen) Welt. Diese zeichnet sich durch klare Grenzen aus. So ist der menschliche Körper eindeutig von produzierten Objekten abgegrenzt. Aber aus heutiger Sicht kann mit der Würde des Menschen nicht nur seine Körperlichkeit gemeint sein. Im Grundgesetz genießt er z.B. bereits Meinungs- und Gedankenfreiheit. Es ist also klar, dass der Mensch Immaterielles produziert, das ihm zugeordnet wird als seine Meinung und seine Gedanken. Der Transport desselben, also die Kommunikation untereinander ist im Grundgesetz in Artikel 10 durch das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis geschützt.
Wir kultivieren heute unser Da-Sein in verschiedenen „Formaten“. Wenn also die Würde des Menschen in seinen körperlichen und nicht-körperlichen Bestandteien unantastbar und unveräußerlich ist, so muss heute die digitale Identität eines Menschen – sein Selbstausdruck in und mit Medien, seine digitalen Spuren, sein digitales Profil – als ein immaterieller Teil seiner selbst eingeschlossen sein.
Es wird in der Debatte um digitale Selbstbestimmung oft nur über Daten gesprochen, die nicht kommerziell Fremdausgebeutet werden dürfen. Die „digitale Identität“ wird damit nicht nur objektiviert, externalisiert, sondern ins Abstrakte, schwer Verständliche gezogen.
Die Unternehmensberatung Accenture beschreibt in Ihrem Trend-Report für das Jahr 2020 das „Digital Double“ und spricht – auch vor dem Hintergrund der Pandemie und der Notwendigkeit der Infektionsverfolgung – für das Jahr 2021 vom Menschen als „Digital Barcode“. Der Mensch selbst wird somit zum Interface, über das man auf ihn zugreifen kann.
Für einen digitalen Zwilling benötigt man Sensoren, die einen aktuellen Status ermitteln, Konnektivität, welche das Objekt vernetzt, definierte Datenstrukturen, die geringstenfalls grundlegende Analytics- Funktionalitäten ermöglichen und ein User Interface, das die Daten visualisiert. Die Umwelt vieler Menschen ist heute bereits mit Sensoren ausgestattet, die modernen datenbasierten Unternehmen verfügen über die notwendigen Analyse-Algorithmen, die über das alles vernetzende Internet eingehenden Datenströme auswerten zu können und der Mensch selbst und die Berührungspunkte seiner digitalen Identität werden zu Interfaces.
Wir müssen uns Gedanken machen, den Schutz der Menschenwürde an die Gegebenheiten der heutigen Zeit, aber auch der mittelfristigen Zukunft anzupassen. Das Internet der Dinge und die digitale Umwandlung von Prozessen (wie. z.B. durch Blockchain) verändert Geschäftsprozesse und die Finanzwelt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir dank Smart Home und Smart City mitten in einer solchen vernetzten Umgebung leben, was die Kontrolle über das digitale Selbst immer schwieriger macht – so, als ob der Liquid Terminator versuchte, sich selbst in einem flüssigen Milieu zusammen zu setzen.
Der Entwickler und Digital Human-Rights Aktivist Aral Balkan arbeitet mit seinem konzernunabhängigen Unternehmen Ind.ie an der Entwicklung sozialverträglicher Technologien. Er hat zusammen mit seiner Partnerin Laura Kalbag das Ethical-Design-Manifesto entwickelt. Das Team kritisiert, dass sich Design im besten Fall um UX und ggf. um Usability kümmert, die Menschenrechte aber selten als Design-Thema angesehen werden. Der Designer:innen wurde einst als Anwälte der Nutzenden bezeichnet. Soll das so bleiben, muss die Wahrung digitaler Souveränität (auch) eine Designaufgabe werden.
Die Beiträge
Thema dieser Ausgabe:
Digitale Souveränität
ist (auch) eine Designfrage.
Gedanken, Guidelines,
spekulative Beispiele.
Digitale Souveränität erfordert digitale Kompetenz
(Wie) kann man digitale Souveränität also durch Design befördern? Kann man die Verantwortung dafür einfach an Produzenten weiter reichen? Oder muss sich auch die Rolle von Nutzenden verändern – also von Konsumierenden zu informiert Agierenden? Wenn ja, wie und wann bildet man Menschen zu digitalen Kompetenz aus?
Digitale Souveränität kann es ohne digitale Kompetenz nicht geben. Diese sollte am besten bereits im Kindesalter entwickelt werden. Gegenwärtig müssen aber auch die Erwachsenen noch mitgebildet werden. Anna Antony und Anna Steinbach stellen daher einen Baukasten vor, mit dem Eltern und Kinder verschiedene Aufgaben lösen und alle Beteiligten daran wachsen können.
Souveränität durch Wahrung der Identität
Muss sich aber nicht ganz generell das Bild von Nutzenden von einer digitalen Welt verändern? Bislang wurde immer wieder versucht, unsere physische Welt zur Erklärung der digitalen zu nutzen. Kann man die neue mit der alten Welt erklären oder führt uns unser altes, bequemes mentales Modell nicht an der Nase herum? Dürfen wir wirklich so naiv sein zu glauben, die virtuelle Welt funktioniert so wie die reale?
Heute schon Klassiker für ein überkommenes mentales Modell ist die Vorstellung vom Metaverse, so wie es die „Erfinder“ bewerben. Veronika Haidarow, Simon de Vries und Jessika K. Sikora untersuchten, was Indentität als Grundlage für Souveränität in unserer physischen Welt ausmacht und wie sich der Identitätsbegriff im Metaverse verändert. Anschließend widmen sie sich in einer Video-Diskussion der provokanten Frage, wie man das Metaverse tatsächlich gestalten sollte, um souveränes Handeln zu ermöglichen.
Die Grenzen der Souveränität
Aber, wie weit sollte die digitale Selbstbestimmung gehen? Stellt digitale Souveränität einen absoluten Anspruch des Individuums dar? Geht es im Gegenteil um Gemeinschaften – um Gesellschaften? Wo hört der Anspruch auf? Gibt es Grenzen?
Nesrin Habbal, Katharina Mass, Lara Metzler und Melissa Schumacher beschäftigen sich mit digitaler Währung und Bezahlvorgängen, die wegen der gewährleisteten Anonymität (=Wahrung der digitalen Souveränität) neben vielen Vorteilen auch Kriminalitätsräume bietet. Wer zahlt also am Ende wirklich? Was ist der Preis der digitalen Freiheit. Der Artikel zeigt die Grenzen der digitalen Souveränität am Beispiel von Kryptowährung.
Fragen statt Antworten gestalten
Und schließlich: Wie gestalten Designer:innen die neue Komplexität vernetzter teil-autonomer Welten, in denen Nutzende zwar antizipierende Services genießen, aber dennoch Souveränität behalten wollen? Sollten Designer:innen den beliebten Journeys und Canvas-Tools nicht den Rücken kehren und stattdessen Fragen statt Antworten suchen?
Florian Beck will Designer:innen zusammenbringen, um statt formelhafter Designparcours einen Fragenkatalog zu entwickeln, mit dessen Hilfe sie angeregt werden, Lösungen zu finden und zu evaluieren.